„Not a feel good movie“
Die Tragödie ist in der Kultur der szenischen Künste eine
etablierte Form der Aufführung. Aristoteles beschreibt sie als
Katharsis, in der wir unsere Seele läutern und uns reinigen. Eine
Identifikation mit dem Schicksal des Protagonisten macht uns
tragische Konflikte erfahrbar, wir durchleben zusammen mit ihnen
Schrecken, Schauer, Hoffnung und Trauer. Diese Aufführungen
präsentieren sich uns an Orten, die wir selber wählen.
Wir begeben uns in die Theater, Opern und Kinosäle, um uns diesen
Strömungen auszusetzen. Stets selbst gewählt und darum kontrolliert
holen wir uns die Tragödie in unsere Intimsphäre. Die Sujets
dringen mit unehrenhaften, unanständigen, erfolglosen oder
tragischen Handlungen in uns ein und werden Teil unseres
Erfahrungsschatzes. Plötzlich durchdrungen von der Tragödie, machen
wir Erfahrungen, die uns im Leben vielleicht niemals begegnen würden.
Beschämt, unzufrieden, eingeengt oder beklemmt sitzen wir in unseren
Sesseln, bereit die Kontrolle über unsere Gefühle abzugeben.
Benommen erwachen wir aus der Inszenierung und sortieren die
Eindrücke. Oft bleiben uns diese noch lange erhalten und wir sind
berührt, obwohl wir nur als Beobachter partizipiert haben. Man
könnte es als Aufklärung verstehen, es werden neue Perspektiven und
dialektische Zugänge geboten. McLuhan beschreibt Medien als
Verlängerung des Körpers. In der Tragödie erweitern wir unseren
Erfahrungsschatz und bereichern uns an dramatisierten Szenerien. Zwei
der etablierten Trigger sind Mitleid und Furcht. Das Horrorgenre weiß
uns mit Furcht zu durchdringen, wo hingegen Dramen oft auf das
Mitleid anspielen. Der Kriegsfilm schockiert mit Bildern von
Schauplätzen der Gewalt und leidenden Soldaten. Eben jene Beispiele
lassen sich gut beschreiben, schwieriger wird es hingegen, wenn die
Handlung uns subtiler einnimmt. Es stellt sich die Frage welche
Möglichkeiten Film bietet Gefühle erfahrbar zu machen und diese
Audiovisuell dazustellen.
„Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der
Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren
weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen“
(Walther
Benjamin / „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit“ [Dritte Fassung] S. 21)
Koen Mortier lässt in Ex-Drummer (2007) seine Figuren
kopfüber an der Decke laufen, führt sie auf eine Reise in eine
Vagina und zeichnet den grauen Alltag der Unterschicht in Belgien.
Mortier stellt den erfolgreichen Schriftsteller Dries in Kontrast zu
der vermeintlich behinderten und gewalttätigen Punkgruppe. Der
Schriftsteller, als Vertreter des Zuschauers, getrieben von
Voyeurismus und Neugier begibt sich in eine ihm fremde Umgebung. Er
wägt sich in der trügerischen Sicherheit in sein beständiges Leben
zurück kehren zu können, wann immer die Situation für ihn nicht
mehr ertragbar ist. Was wir von unseren sicheren Warte aus
beobachten, dringt bei ihm tief in seine Realität ein. Steht Dries
als Metapher für das Publikum, welches auf der Suche nach
Unterhaltung ins Kolosseum strömt und was bekommen wir zusätzlich
geboten? Wie distanziert können wir diese Erfahrungen auf der
Leinwand betrachten und ab welchem Punkt werden sie zum Teil unseres
Erfahrungsschatzes?
Eine der derzeit erfolgreichsten Serienproduktionen: Homeland,
bringt uns den Krieg nahe ohne aufwendige Schusswechsel oder
effektvoll inszenierte Kriegsschauplätze. Die Charaktere stehen im
Mittelpunkt, sie sind es die die Faszination der Serie ausmachen. Sie
werden uns in ihrer Tiefe präsentiert und wir wanken mit unseren
Sympathien ständig zwischen den beiden Protagonisten hin und her.
Erfolgreiche Produktionen von Qualitätsserien spielen weniger auf
die Special Effects an, sondern auf die Tiefe der Handlung. Begriffe
wie Glaubwürdigkeit und Authentizität werden bemüht, sie sollen
zeigen wie nachvollziehbar und schlüssig das Handeln und Dilemma der
Charaktere inszeniert sind.
Night of the Hunter (1955) von Charles Laughten steckt das
Genre Thriller ab. Wir bekommen einen Robert Mitchum präsentiert,
der wie ein Tier agierend durch die künstliche Studiowelt stürmt.
Wehrlose Kinder sind dem Tier ausgeliefert, auf der Flucht und in
ständiger Angst, wie in einem Alptraum durch ein Szenario aus Licht
und Schatten. Die Paranoia entsteht nicht nur durch das Handeln der
spielenden Personen, sondern auch durch die Mise-en-scene.
„Not a feel good Movie“ ist eine sehr allgemeines Feld. Eine
Definition zu finden ist nicht die Aufgabe des Dossiers, da die
Übergänge fließend sein können. Jedes Genre besitzt das Potential
mindestens Elemente der vorangegangen Stimmungsbilder zu verwenden.
Dieses Dossier soll als Anfang gelten filmvermittelnde Filme und
Essays zu sammeln, die sich eben mit dieser Filmsprache beschäftigen.
Es soll Möglichkeiten bieten zu beschreiben, wie Strategien effektiv
eingesetzt werden. Das Dossier hat Beiträge gesammelt, die sehr
elaborierte künstlerische Filme bieten, die sich vielleicht nicht
beim ersten sehen selbst erklären, filmvermittelnde Filme, die
über einen Off-Kommentar funktionieren oder über das Aufreihen sich
wiederholender Motive.
Wir betrachten wiederkehrende Muster bei David Lynch, bekommen einen
Einblick in die Geschichte des Zombiefilms, schauen in die
Inszenierung von Räumen bei Stanley Kubrick und bekommen
Alternativen zum etablierten Kriegsfilm.
Filmvermittelnde Filme bieten uns einen Zugang
Wirkungsweisen der Inszenierung zu untersuchen. Nicht auf
Vollständigkeit oder Unwiderlegbarkeit aus, sondern spielerisch und
neugierig gehen wir auf Entdeckungsreise. Der filmvermittelnde Film
soll Spaß machen und Möglichkeiten bieten Filme zu untersuchen,
eine Sichtbarmachung der Filmwissenschaften, niederschwellig für ein
breites Publikum zugängig. /20.04.2013